Wir alle würden gerne moralisch gute Entscheidungen treffen. Aber die Realität sieht leider ganz anders aus. Warum ist das so? Und was können wir dagegen unternehmen?

In der digitalisierten Geschäftswelt mit dem hochfrequenten Informationsfluss folgen immer mehr Führungskräfte bei ihren Entscheidungen ihrem Bauchgefühl. Weil die Zeit für eine genaue Abklärung der Faktenlage, das Vergleichen der verschiedenen Optionen oder ein Nachfragen bei einer Vertrauensperson vermeintlich nicht vorhanden ist.

Das Problem dieses Vorgehens ist unsere verzerrte Wahrnehmung, welche diesen Entscheiden zugrunde liegt. Die Verhaltensforschung weiss es schon lange: Wir alle haben einen sogenannten „Blinden Fleck“, eine Wahrnehmungslücke. Wir nehmen Informationen durch einen Filter wahr und selektieren aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen diese Informationen weiter aus. (Die elektronischen Medien mit den unterlegten Algorithmen fördern dieses Verhalten natürlich noch zusätzlich.)

 

Schnelles denken, langsames Denken

Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat in seinen Forschungen mit Amos Tversky die zwei unterschiedlichen „Denksysteme“ sehr anschaulich herausgearbeitet. Unser Gehirn arbeitet im System 1 intuitiv, emotional und braucht wenig Energie. Dies ist der bevorzugte Betriebsmodus. Im System 2 brauchen wir mehr Energie und die Entscheidungen werden langsamer und abwägender durchdacht und gefällt.

Das Problem ist, dass Entscheidungen im System 1 oft von (unbewussten) Eigeninteressen beeinflusst werden. Somit wird nicht die für die Allgemeinheit oder die Unternehmung optimale oder fairste Lösung gewählt, sondern die einfachste.

Immanuel Kant

Für Kant (1724 – 1804) ist der Lösungsansatz in seiner deontologischen Pflichtenethik klar vorgegeben. Er setzt die rationale Vernunft im Menschen voraus und verlangt in jeder Situation nach dem moralisch einwandfreien Handeln aus innerer Überzeugung. Aber die grundsätzlichen Vorgaben „Du sollst nicht lügen“ oder „Du sollst nicht betrügen“ halten der heutigen Lebensrealität nicht stand.

 

Jeremy Bentham & John Stuart Mill

Etwas optimistischer stimmt der utilitaristische Ansatz, welcher von Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873) geprägt wurde. Diese Denkhaltung sieht ein Streben nach dem grössten Nutzen für die grösstmögliche Anzahl von Menschen vor. Diese Grundhaltung ist in vielen anderen Theorien aufgegangen und ist somit in vielen modernen Verfassungen und Firmenleitbildern zumindest implizit richtungsweisend.

 

John Rawls

Ein interessantes Gedankenexperiment für eine ethische Entscheidungsfindung liefert John Rawls (1921 – 2002) in seinem 1971 veröffentlichten Werk „Theorie der Gerechtigkeit“. Für Rawls sind diejenigen Entscheidungen fair, welche in Unkenntnis über die eigene Stellung in der Zukunft getroffen werden. Der von ihm erstmals erwähnte „Schleier des Nichtwissens“ soll die optimalen Lösungen für die schwächste Minderheit der Gemeinschaft vor der Beeinflussung durch die Eigeninteressen der Mächtigen resp. der Mehrheit schützen. Ein Ansatz, der auf den ersten Blick klar macht, dass solche Entscheidungen im System 2 zu fällen sind.

Der Lösungsansatz scheint einfach und ist doch schwierig umzusetzen. Wir haben es primär mit einem Ressourcenproblem zu tun. Und zwar einerseits mit der Zeitressource und andererseits mit der biologischen Programmierung unseres Gehirns, das lieber im bequemen System 1 Modus arbeitet, statt komplexe Problemstellungen rational aufzulösen und dafür viel Energie aufzuwenden.

 

Kann Kant uns noch helfen?

Um die eingangs gestellte Frage aufzulösen: Ja, ich bin der Meinung die ethische Grundhaltung von Kant kann uns auch heute noch helfen. Sie ist zwar im täglichen Leben für viele in ihrer absoluten Kompromisslosigkeit unerreichbar, aber sie kann uns als eine Art „Polarstern“, als Orientierungshilfe für unsere inneren Werte dienen. Wer sich dann die Zeit nimmt, um die vorhandenen Optionen aus der utilitaristischen Perspektive nach dem grössten Nutzen für alle Beteiligten zu betrachten, hat schon sehr viel erreicht. Dass dabei auch Lösungen und Kompromisse gefunden werden, die dem ersten Bauchgefühl widersprechen, scheint unvermeidlich. Aber als Führungskraft sollten Sie sich Ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und den Effekt, den Ihre Art der Lösungsfindung auf Ihre Umgebung und die Kultur in der ganzen Organisation hat, nicht unterschätzen. Menschen haben die Tendenz, das Verhalten anderer zu imitieren. Und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Unternehmenskultur als Ganzes in die von Ihnen vorgelebte Richtung verändern wird.

 

Das Verhalten von Führungskräften

Natürlich können Führungskräfte nicht immer rational entscheiden. Aber sie können sich darum bemühen und sich vermehrt ihrer systematischen kognitiven Verzerrungen bewusst werden. Das führt zunächst zu ethisch fundierten Entscheidungen, die sich besser mit ihren inneren Werten decken. Möglicherweise müssen sie ihre persönlichen Ziele anpassen und vielleicht erreichen sie in einer Verhandlung nicht den maximalen Gewinn für sich und ihre Organisation. Dieser vermeintliche Verlust wird aber, durch die guten Beziehungen zu ihren Geschäftspartnern und das Vertrauen in ihre offen gelebte Werthaltung, auf lange Sicht mehr als wettgemacht.