Aus fast allen Branchen hören wir das Wehklagen über den aktuellen oder zumindest bevorstehenden Fachkräftemangel.

Wahlweise werden die demografische Entwicklung, die mangelhafte Bildungslandschaft, die fehlende Motivation der jüngeren Generation oder die hohen Sozialkosten der erfahrenen Mitarbeiter dafür verantwortlich gemacht.

Doch stimmt das wirklich? Ist dieses (vermeintliche) Problem so unausweichlich und unumkehrbar vorhanden, wie uns einige prominente Wirtschaftsvertreter immer wieder erklären? Oder werden hier, bewusst oder unbewusst, einige Versäumnisse ausgeblendet?

Die Wahrheit, was immer man darunter verstehen will, liegt wohl in der Schnittmenge aller genannten Aspekte. Festzuhalten bleibt, dass gemäss den Angaben des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) in der Schweiz über fünf Millionen Erwerbstätige im Alter ab 15 Jahren leben, wovon etwa 66 %, also zwei Drittel, tatsächlich einer Beschäftigung nachgehen. Dasselbe Bundesamt weist aktuell eine Arbeitslosenquote um die 3 % aus. Wenn wir die ausgesteuerten langzeitarbeitslosen Personen dazu nehmen, können wir wohl von gegen 300´000 Menschen im erwerbsfähigen Alter ausgehen, die in der Schweiz leben und arbeiten könnten, dies aber nicht tun. Die Frage ist jetzt: Arbeiten sie nicht, weil sie nicht wollen, nicht können oder nicht dürfen?

Ohne auf regionale oder branchenspezifische Eigenheiten einzugehen, nehmen wir die absolute Zahl von momentan über 174‘000 publizierten offenen Stellen zum Vergleich und fragen uns, weshalb die offenbar genügend vorhandene Arbeitskraft keinen Zugriff auf den Arbeitsmarkt erhält?

Für den Fall von nicht wollen müssen wir vom sicher vorhandenen Missbrauchspotential der Sozialwerke ausgehen. Ein Umstand, den es im Sinne der Gesellschaft mit angemessenen Massnahmen zu minimieren gilt. Andererseits sind auch individuelle Motivationsprobleme verschiedener Art nicht auszuschliessen. In mehreren Studien wurde eine kausale Relation zwischen der maximalen Bezugsdauer von Arbeitslosenhilfe und der Dauer der Stellensuche nachgewiesen. Die Stellensuchenden hofften resp. warteten länger auf ein passendes Angebot.

Im Falle des nicht können kommt die strukturelle Arbeitslosigkeit ins Blickfeld. Diese entsteht dort, wo sich Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ohne strukturelle Anpassungen kurzfristig nicht abbauen lässt. Die oben erwähnten Studien zeigten allerdings ein weiteres Phänomen in Form von immer höherer Qualifikation der Stellensuchenden. Dies führt zur dritten und undankbarsten Art der Stellensuchenden.

Im Fall von nicht dürfen zeigt sich nämlich ein wenig beachtetes Marktversagen im Schweizer Arbeitsmarkt. Die immer höhere Qualifikation der Suchenden zeigt auf der einen Seite, dass der Wille vorhanden ist, sich den steigenden Anforderungen anzupassen. Auf der anderen Seite werden die Stellenprofile der Arbeitgebenden immer komplexer, teilweise ufern sie sogar ins Absurde aus.

Wer in den letzten Jahren die Stellenausschreibungen nicht nur oberflächlich studiert hat, ist aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Da werden Qualifikationen und Lebensläufe gesucht, die sich in zwei Leben nur schwerlich verwirklichen lassen. Wer also sein passgenaues Studium nicht mit Bestnote abgeschlossen hat, die ausgeschriebene Funktion seit mindestens fünf (besser zehn) Jahren erfolgreich ausübt, diesen Erfolg bitte auch dokumentieren kann, dazu noch drei Sprachen verhandlungssicher spricht und schreibt (jede weitere Sprache ist ein Plus!) und eine weltweite Reisebereitschaft mitbringt, hat keine Chance, den programmierten Algorithmus von der Notwendigkeit eines Vorstellungsgespräches zu überzeugen. Vor allem, wenn er älter als 35 Jahre ist und (Achtung Höchststrafe!) seine Erstausbildung in einer anderen Branche absolviert hat.

Zeigt sich hier eine gewisse Arroganz der aktuellen HR-Verantwortlichen? Blindes Vertrauen in eine vorprogrammierte Software ersetzt das eigene Verantwortungsgefühl nicht, auch wenn sie vermeintlich noch so viel Zeit spart. Wofür wird denn die so gewonnene Zeit genutzt? In vielen HR-Abteilungen wird das eigene verstaubte Stellenprofil abgearbeitet und auf Anweisungen von oben gewartet. Eigeninitiative betreffend fehlendem internen Know-how, zukünftige Bedürfnisse der Organisation, Nachfolgeregelungen planen, proaktives Erarbeiten und Einführen gesundheitsfördernder Massnahmen oder ein Wissensaufbau zum Stand der aktuellen Forschung in Arbeits- oder Unternehmenspsychologie? Fehlanzeige. Dazu muss allerdings angeführt werden, dass die Geschäftsleitungen diese Arbeiten auch gar nicht erwarten. Die HR-Abteilung rückt eigentlich nur einmal im Monat in den Fokus: Nämlich am Tag der Salärauszahlung.

Diese sich selbst verstärkende negative Konstellation in Kombination mit einem kurzfristigen Blick auf die eigene Gewinnmaximierung ist für eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen verantwortlich. Ein stark vereinfachtes Gedankenspiel macht dies deutlich: Die angenommenen 300´000 Menschen ohne Arbeit verursachen, bei einer geschätzten durchschnittlichen Auszahlung von CHF 5000.- pro Monat, im Jahr Kosten von 18 Milliarden CHF. (Und darin sind die Kosten für die Arbeitsvermittlungszentren und die staatlichen Angestellten in diversen anderen Institutionen noch gar nicht berücksichtigt!) Wenn die erwähnten 174´000 ausgeschriebenen Stellen jedoch besetzt werden könnten, und bei einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit von 2000 Stunden einen angenommenen Umsatz von eher tiefen 80.-/h erwirtschaften würden, entstünde (nach Abzug der geschätzten 2 % gesetzlich vorgeschriebenen Stellenausschreibungen, welche nur pro forma erstellt werden, aber bereits mit einer internen Nachfolgeregelung abgedeckt sind) eine Wirtschaftsleistung von mehr als 27 Milliarden CHF.

Die Tatsache, dass die Kosten in staatlichen Institutionen anfallen und die vermeintlich entgangene Wirtschaftsleistung momentan von den aktuell vorhandenen Angestellten mitgeleistet wird (zu welchem Preis eigentlich?) macht eine direkte Gegenüberstellung natürlich schwierig. Aber nur schon dieser verkürzte und stark vereinfachte Blick auf die aktuelle Situation zeigt deutlich, welches Potential hier brach liegt.

Wenn wir jedes Jahr gut 5 % des BIP verschenken, brauchen wir alle eine neue Perspektive auf das Problem. Ich bin überzeugt, dass mit ein wenig gutem Willen auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes die Situation erheblich verbessert werden könnte.

Wer sich als Arbeitnehmer für eine Arbeit am Rande der Wohlfühlzone nicht zu schade ist, verbessert seine Chancen erheblich. Und öffnet den eigenen Blickwinkel für ungeahnte persönliche Entwicklungen.

Die Arbeitgeber sollten nicht klagen, sondern sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Der liberale Arbeitsmarkt bietet mit Temporäranstellungen, Try and Hire, Payrolling, Freelancer-Verträge usw. viele Möglichkeiten jenseits der klassischen Festanstellung, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenzulernen und ihnen eine Chance zu geben. Abgesehen davon ist jede interne Weiterbildungsmassnahme wesentlich effizienter als ein utopisches Stelleninserat in den elektronischen Kanälen …