Die Frage, wie es nach der Krise weitergehen soll, beschäftigt uns alle. Merkwürdigerweise wird in der Politik und den Medien auffällig häufig von einem „zurück zum normalen Leben vor der Krise“ gesprochen. Doch seien wir ehrlich, ein Zurück in den Zustand vor der Krise wäre der grösste Fehler der letzten Jahrzehnte. Denn der Zustand vor der Krise war alles andere als „normal“. Die nicht nachhaltige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wird in die Selbstausrottung unserer Spezies führen. Die immer markantere ungleiche Verteilung der materiellen Ressourcen und Möglichkeiten führt immer stärker zu einem Verfall der moralischen Normen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in gewissen, umstrittenen Staatsspitzen sowohl in Europa als auch auf anderen Kontinenten.

Ob der slowenische Philosoph Slavoj Zizek mit seiner Aussage, dass die Corona-Pandemie das Ende einer Ära sein wird, Recht behalten wird, muss sich noch zeigen. Ein für das menschliche Auge unsichtbares Virus hat jedoch deutlich gemacht, was schon vorher offensichtlich war, nämlich dass der neoliberale Hochgeschwindigkeitskapitalismus gescheitert ist.

Rückblickend lässt sich der Ursprung unserer heutigen Probleme sehr genau rekonstruieren. Ausgehend von den späten siebziger Jahren wurde spätestens nach dem Mauerfall 1989 der Sieg des westlichen Kapitalismus, in Gestalt der freien Privatwirtschaft, über den kommunistischen Zentralstaat des damaligen Ostblocks ausgerufen. Damit einher ging ein zunehmend blindes Vertrauen in rein mathematikbasierte volks- und betriebswirtschaftliche Theoriemodelle, welche die Funktion des Marktes und den zunehmenden Wohlstand für alle durch anhaltendes Wachstum garantieren sollten. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass neben vielen anderen vormals staatlich beaufsichtigter Dienstleistungen, nicht nur die medizinischen Einrichtungen unter das alles dominierende Regime des freien Marktes fiel, sondern auch die Bildungseinrichtungen ökonomisiert wurden.

Der immer lauter werdende Ruf nach technisch-mathematisch ausgebildeten Fachkräften führte dazu, dass heute an den Universitäten fast die Hälfte aller Studenten die sogenannten MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik belegen. Die Absolventen können nach ihrem Abschluss zwar hervorragend lesen, schreiben und rechnen, aber die Fähigkeit zur Diskussionskultur von Disziplinen übergreifenden Problemstellungen unter Einbezug von Fragen zu Moral und ethischen Werten, fehlt.

Doch genau diese Fähigkeiten brauchen wir heute, wenn wir uns weiterentwickeln und nicht in alte Muster zurückfallen wollen. Im März 2020 ist für einen kurzen Augenblick klar geworden, dass wir unseren moralischen Kompass keineswegs verloren haben. Er wird nur durch die digitale Propaganda und die Marketingmaschinerie des Dauerkonsums übertönt. Aber wir sind nach wie vor zu moralisch gutem Entscheiden fähig. Dies hat die Welle der Solidarität aller für die Minderheit der Risikogruppen im vergangenen Frühjahr deutlich gezeigt.

Wer genau hinschaut, muss zugeben, dass die Gesamtbilanz unseres Systems schon lange negativ ist. Da können uns die Milliardengewinne der Grosskonzerne, welche beim kleinsten Hüsteln „der Märkte“ mit Billionen von Steuergeldern gerettet werden müssen, nicht länger täuschen. Was uns die Überwindung der Corona-Krise abverlangen wird, ist noch nicht abzuschätzen. Zudem ist die Finanzkrise von 2008 noch lange nicht ausgestanden. Dazu genügt ein Blick auf die extrem gestiegenen Staatsverschuldungen und in die Bilanzen der Bankinstitute. Und darin sind die externen Kosten des Klimawandels noch gar nicht berücksichtigt.

Dieser ganze Prozess hat, wie sich heute zeigt, seinen Ursprung auch in einem eigentlichen Zerfall der Sitten. Was für unsere Grosseltern noch ein unentschuldbarer Verstoss gegen Recht und Ordnung darstellte, wird heute als normal oder „branchenüblich“ wahrgenommen und kommentarlos akzeptiert.

Wie lange wollen wir uns noch von diesen falschen Versprechungen im Hamsterrad des „freien Marktes“ in die Erschöpfungsdepression treiben lassen?

 

Damit wir anschliessend zur Erholung als Massentouristen von irgendwelchen, mit steuerbefreitem Kerosin operierenden, Billigairlines an alle möglichen und unmöglichen Feriendestinationen verfrachtet werden? Oder uns dem zwangsverordneten Dauerkonsum hingeben? Ist das das gelungene Leben, von dem wir geträumt haben? Und das wir zukünftigen Generationen vorleben wollen?

Sollten wir nicht, statt weiter in einem unheilvollen politischen Kampf nach den Regeln des Rechts des Stärkeren zu verharren, eine übergeordnete Auflösung der Konfliktlinien suchen und den Nachhaltigen moralischen Fortschritt für alle wieder in den Blick nehmen? Ein erster Schritt in die richtige Richtung könnte schon die Aufnahme des Faches Philosophie in den Lehrplan der Grundschulen darstellen. Wer früh in seiner Entwicklung das logische Nachdenken und das Diskutieren von ethischen Problemstellungen mit anderen lernt, wird später moralisch bessere Entscheidungen treffen.

Der Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel stellt richtigerweise fest: „Wir brauchen eine moralische, auf systematische Weise nachhaltige Wirtschaftsordnung, deren Schaffung von ökonomischem Mehrwert systematisch an das Ideal moralischen Fortschritts für alle Menschen gekoppelt ist – eine moralische, humane Marktwirtschaft, die nicht auf unendliches Wachstum hin angelegt ist.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Ausser vielleicht, dass es höchste Zeit ist, die Fehler der Vergangenheit endlich zu korrigieren.

Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir damit beginnen?